B. Pati u.a. (Hrsg.): Health and Medicine in Colonial India

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Titel
The Social History of Health and Medicine in Colonial India, 1850-1940s.


Herausgeber
Pati, Biswamoy; Harrison, Mark
Reihe
Routledge Studies in South Asian History
Erschienen
London 2009: Routledge
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
€ 99,67
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Mann, Historisches Institut, FernUniversität Hagen

In den 1980er-Jahren erschienen zunächst wenige, wenngleich grundlegende Werke zur Medizingeschichte Britisch-Indiens.1 Besonders im Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende erfuhr die Medizin des britischen Kolonialregimes dann ein gesteigertes Interesse seitens der akademischen Forschung,2 worauf die Herausgeber des zu besprechenden Buches bereits 2001 aufmerksam machten.3 Inzwischen, so die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung des vorliegenden Sammelbandes, habe sich dieses Wachstum weiter verstärkt, wobei der Anteil von Doktorarbeiten hervorgehoben wird (S. 1). Gegenüber den zuerst eher groben Pinselstrichen würden nun die feinstrichigen und tiefgehenden Analysen der gegenwärtigen Studien auffallen. Sinn des vorliegen Sammelbandes sei es daher, einen Ertrag dieser jüngsten Forschungen zu präsentieren. Dass die Beiträge nicht in sinnvolle Rubriken geordnet werden können, sondern in einer eher wahllosen Reihung erscheinen, darf unter diesen Umständen nicht verwundern.

Sarubh Mishras Beitrag „Beyond the bounds of time? The Haj pilgrimage from the Indian subcontinent, 1865-1920“ untersucht die Auswirkungen kolonialer Gesundheitspolitik und medizinischer Prophylaxe im Zusammenhang der jährlichen Pilgerfahrten von indischen Muslimen nach Mekka. Er widerlegt die kolonialhistorisch-essentialistische Annahme, die Pilgerreisen hätten sich im Verlauf der Jahrhunderte nicht verändert. Im Gegenteil, vor dem Hintergrund der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stattfindenden internationalen Gesundheitskonferenzen wird deutlich, dass die alljährliche Pilgerfahrt zunehmend in den Blickwinkel der Öffentlichkeit geriet. Cholera- und Pestausbrüche in Bombay in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und die seitens der europäischen Kolonialmächte erhobenen Zweifel an der britischen Gesundheitspolitik in Indien zwangen das dortige Kolonialregime, präventive Maßnahmen zu ergreifen, die für die Pilger tiefgreifende Veränderungen bedeuteten.

Streng geführte Passagierlisten, prophylaktische teils wochenlange Quarantäne, die für die Pilger auf den Schiffen und in den Sammellagern extreme Belastungen mit sich brachten, physische Untersuchungen, die oft an die Grenzen des Zumutbaren stießen, sowie die Inspektion der Schiffe unter medizinischen Gesichtspunkten unterwarf die ehedem rein religiös motivierte Pilgerfahrt einem Raster gesundheitspolitischer Untersuchungen und damit staatlicher Kontrolle. Reisetagebücher betroffener Pilger dokumentieren die bisweilen erniedrigenden, in jedem Fall aber zeit- und nervenaufreibenden Maßnahmen, die obendrein mit zusätzlichen Kosten verbunden waren. Im Zuge der Politisierung des Islam um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde auch die Pilgerfahrt nach Mekka in einen politischen Kontext gestellt, in dem es galt, mit Hilfe medizinischer Prävention politische Kontrolle über die zunehmend als politisch definierte Religionsgemeinschaft der Muslime Britisch-Indiens auszuüben.

Amna Chalid kann in ihrem Beitrag „'Subordinate' negotiations. Indigenous staff, the colonial state and public health“aufzeigen, dass im Zuge von Pilgerschaften in Britisch-Indien die Befugnisse der Polizei auf immer weitere Bereiche wie die medizinische Kontrolle beim Ausbruch von Epidemien und der Prostituierten ausgeweitet wurden. Insbesondere die niederen Ränge der Polizei, die mit Indern besetzt waren, wurden unverzichtbares Personal im Rahmen kolonial-administrativer Überwachung gerade im ländlichen Raum. So wurde auch wegen des Zugangs der Polizei zu breiten Kreisen der Bevölkerung die Polizeireform, die das Personal ortsfremd besetzte, zu Gunsten des alten Systems, das die Polizeikräfte aus ortsansässigen Familien rekrutierte, wieder aufgehoben. Letztlich, so das Resümee, sei die Polizei kein unschuldiges Opfer kolonialer Politik gewesen, sondern aktive Mitarbeiterin in einem auf Unterdrückung ausgelegten politischen System.

Sanchari Dutta untersucht „Plague, quarantine and empire. British-Indian sanitary strategies in Central Asia, 1897-1907“. Erneut spielte der Ausbruch der Pest in Bombay 1896 eine bedeutende Rolle auf dem imperialen Parkett. Im Rahmen des „Great Game“ zwischen Russland und Großbritannien um die Kontrolle des Hindukush, aber auch Persiens, richteten sowohl die russische Administration in den zentralasiatischen Provinzen als auch die britische Regierung Indiens vorgeschobene Posten der medizinischen Kontrolle ein, um so der Verbreitung der Pest angeblich wirkungsvoll entgegenzutreten. Im Rahmen der „Great-Game-Diplomatie“ nutzten beide imperialen Mächte die Gesundheitspolitik zur Sicherung imperialer Interessen, die weit über Zentralasien hinausgingen.

In ihrem Aufsatz „The leprosy patient and society. Colonial Orissa, 1870s-1940s“ verweisen B. Pati und Ch. P. Nanda auf die Methoden zur Heilung von Lepra im ostindischen Orissa. Im Zuge der Hinduisierung betrieb ein lokaler Raja die Historisierung gesammelten Wissens zu Lepra, das unter anderem Segregation und Kontrolle von Leprainfizierten aus den alten Sanskrit-Texten ableitete. Doch vermutlich, so die Autoren, stammten besagte Texte aus dem 19. Jahrhundert und dienten allein dem Zweck, sich dem Kolonialregime anzudienen. Zugleich war zu beobachten, dass die urbane Bevölkerung Puris und Kataks (Cuttack) durchaus die britische Politik der Isolierung von Leprakranken in eigens eingerichteten Stationen befürwortete, was das Kolonialregime in gesellschaftspolitischer Hinsicht stabilisieren half. Erstaunen mag, dass sich in den Leprastationen aufgrund fehlerhafter Diagnosen bei weitem nicht nur lepröse Patienten befanden, sondern beispielsweise auch Witwen, die so ihrem sozialen Elend im Familienverband entflohen. Weniger erstaunlich ist jedoch die gesundheitspolitisch kontraproduktive generelle Überbelegung der Stationen. Insgesamt, so die Autoren, kann das Unternehmen der Leprastationen als gescheitert betrachtet werden, sieht man einmal von der Tatsache ab, dass die Infizierten aus der Öffentlichkeit entfernt wurden.

Samiksha Sehrawat verweist in ihrem Artikel „'Prejudices clung to by the natives'. Ethnicity in the Indian army and hospitals for sepoys, c. 1870s-1890s“ auf die teilweise recht widersprüchliche Politik des britischen Kolonialstaates. Die Debatte um die Einführung von überregionalen Krankenstationen anstelle lokaler Regimentslazarette beleuchtet dies. Während britische Soldaten seit den 1870er-Jahren bei Bedarf in Krankenstationen versorgt wurden, wurde dies indischen Soldaten verweigert. Die Behörden des Kolonialstaates argumentierten, indische Soldaten könnten nur im gewohnten Umfeld den Arzt ihres Vertrauens in Anspruch nehmen. Dass britische Soldaten das gleiche Argument anführten, wurde geflissentlich übergangen. Abgesehen davon achteten die Briten bei der Rekrutierung ihres Militärs auf die so genannten „martial races“. Meist waren das Sikhs aus dem Panjab, auf deren „ethnischen“ Zusammenhalt Wert gelegt wurde. Bestehende soziale und familiale Hierarchien konnten so gewinnbringend in die militärischen Strukturen integriert werden (an Stelle von “ethnisch” hätte sich eher familial und gesellschaftlich angeboten!).

Andererseits wurde argumentiert, dass die indischen Soldaten nicht in der Lage seien, sich mit Neuerungen wie Krankenstationen anzufreunden. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich jedoch, dass man solchen Innovationen gegenüber durchaus aufgeschlossen war, so lange sich die familial-gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen bewahren ließen. Zu einer weiteren Debatte um die Einführung des Stationssystems kam es nicht, da eine Ausdehnung des Systems auf die ganze britisch-indische Armee zu erhöhten Kosten geführt hätte. Die aber galt es gerade nach den kostspieligen Kriegen der 1880er-Jahre zu vermeiden. Letztlich wurde das Regimetslazarett beibehalten. Chronische Unterversorgung an medizinischem Personal und Material in den kommenden Jahrzehnten, kaschiert unter dem Vorwand der Rationalisierung, führte zum blamablen Zusammenbruch dieses Systems an der mesopotamischen Front 1917, mitten im Ersten Weltkrieg.

Der letzte Beitrag des Bandes ist aus der Hand von Amar Farooqui und titelt „Opium as a household remedy in nineteenth-century western India“. Hauptsächlich basierend auf dem Report of the Royal Commission on Opium aus dem Jahr 1895 zeigt Farooqui zunächst auf, dass Opium im westlichen Indien als ein allgemein anerkanntes Medikament gegen eine Vielzahl von Beschwerden angewandt wurde. Verwundern mag bei der notorischen Akribie des Kolonialstaates, dass keinerlei physische Untersuchungen, keine statistischen Kompilationen und keine vergleichenden Untersuchungen zu Verlaufsformen von Krankheiten mit und ohne Behandlung mit Opium angestellt wurden. Im Gegenteil, trotz gegenteiliger Erkenntnisse aus Europa war Opium in Indien weiterhin als Heilmittel gegen Malaria anerkannt. Offensichtlich existierte seitens der Kolonialadministration wie auch seitens der Mediziner kein Interesse an einem Verbot von Opium, was wiederum belegt, dass nur bei bestimmten Krankheiten westliche Medizinerkenntnis selektiv gegen indische Medizinpraxis ins Feld geführt wurde, um die zivilisatorische Überlegenheit europäischer Wissenschaft zu demonstrieren. Freilich hätte dies im Beitrag herausgestellt werden müssen.

Insgesamt präsentieren die zusammengestellten Beiträge höchst spannende Forschungsfelder, und der Sammelband stellt sie in anspruchsvoller Form vor. In der Tat handelt es sich um teilweise recht spezielle Aspekte, die jedoch aufzeigen, auf wie vielfältige Weise der Kolonialstaat in Britisch-Indien aktiv oder aber inaktiv war, und welch deformatorische Konsequenzen aus seinen weitreichenden Entscheidungen erwachsen sind. Es bleibt zu hoffen, dass die künftige Forschung weiter in die Materie einsteigt und neue Erkenntnisse gewinnen kann. In jedem Fall ist das Buch ein Muss für Studierende der Geschichte Südasiens, und nicht nur seiner Medizingeschichte, da es viel über koloniale Herrschaftspraxis auf unbekannten Feldern aussagt.

Anmerkungen:
1 Den Anfang machte Radhika Ramasubhan, Public Health and Medical Research in India. Their Origins and Development under the Impact of British Colonial Policy, Stockholm 1982 sowie, allgemeiner, der Samnelband von Roy MacLeod / Milton Lewis (Hrsg.), Disease, Medicine and Empire: Perspectives on Western Medicine and the Experience of European Expansion, London 1988.
2 David Arnold, Colonizing the Body: State Medicine and Epidemic Disease in Nineteenth-Century India, Berkeley 1993; Mark Harrison, Public Health in British India: Anglo-Indian Preventive Medicine 1859-1914, Cambridge 1994.
3 Mark Harrison / Biswamoy Pati (Hrsg.), Health, Medicine and Empire: Perspectives on Colonial India, Delhi 2001.

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